Zum Titelfoto: Im Frühjahr 1981 steht ein Triebwagen der Baureihe 171 der Deutschen Reichsbahn vor dem Stellwerk Abwt (Anhalter Bahnhof Westturm). Die in das Mauerwerk eingelassene Raute sieht aus, als ob sie frisch gestrichen worden wäre. Foto Frank Müller.

 

 

Zur Geschichte eines noch heute sichtbaren Zeichens

 

Noch heute kann die/der aufmerksame Beobachterin/Beobachter an manchen Stellwerken ein ominöses Zeichen erkennen. Mal stark verwittert, mal sehr deutlich ins Mauerwerk eingelassen. Und – das sei schon am Anfang verraten – nur auf dem Gebiet der ehemaligen Preußisch-Hessischen Staatsbahnen.

Was hat es mit dieser Raute auf sich? Das fragte ich mich als Verkehrshistoriker mit Schwerpunkt auf die Geschichte der Stellwerke und Sicherungstechnik in Deutschland  auch und wollte hinter das Geheimnis dieses Zeichens kommen.

Vor einigen Jahren stieß ich im Forum der Drehscheibe Online auf eine mögliche Erklärung: Die Raute diente in der Zeit der Verdunklung im Zweiten Weltkrieg als Erkennungszeichen der Befehlsstellwerke für ortsfremde Personale. So weit logisch. Denn die Raute befindet sich nur an Befehlsstellwerken. Damit wäre der Fall eigentlich geklärt gewesen.

Zweifel kamen bei mir auf, als ich eine Ansichtskarte des Bahnhofs Velten bei Berlin für meine Sammlung erwarb. An dem Stellwerksvorbau am Empfangsgebäude erkennt man deutlich die weiße Raute. Der Bahnhof wurde 1927 für die Aufnahme des elektrischen Vorortverkehrs (die spätere Berliner S-Bahn) komplett umgebaut. Die Postkarte zeigt den Bahnhof im seinen Zustand von 1910 bis 1927. Damit war der zeitliche Bezug auf den Zweiten Weltkrieg obsolet. Das Zeichen hatte mit der Verdunklung nichts zu tun. Durch Zufall stieß ich in einem Handbuch für Stellwerksschlosser aus dem Jahr 1921 auf einen wichtigen Hinweis. Im Anhang waren wichtige Erlasse des Reichsverkehrsministeriums für das Eisenbahnsicherungswesen abgedruckt. Der Erlass vom 27. September 1919 VII 75 F 7841 lautet wie folgt:

„Die Bezeichnung der Befehlsstellwerke an beiden Stirnseiten mit auf der Spitze stehendem Quadrat aus weißer Ölfarbe zur leichteren Erkennung für die Bremser hat sich gut bewährt. Diese Bezeichnung ist daher auf den Hauptstrecken allgemein einzuführen.“

Also ein Erkennungszeichen für die Bremser. Das Datum des Erlasses lässt auf eine Einführung im Ersten Weltkrieg schließen. Über den Grund, warum der Bremser die Befehlsstellwerke erkennen muss, schweigt sich der Erlass aus. Bei meinen weiteren Forschungen wurde ich im Amtsblatt der Königlichen Eisenbahndirektion von 1918 fündig. Meine Vermutung, dass die Einführung mit dem Ersten Weltkrieg im Zusammenhang stand, bestätigte sich.

Die lfd. Nr. 672 des Amtsblatts vom 27. Mai 1918 führt folgendes aus:

„Verhalten der Bremser bei Durchfahrt durch die Bahnhöfe.

Es ist erforderlich, daß die in § 45(4) F.-V. vorgeschriebenen Zeichen, durch die sich die Bremser bei Durchfahrt durch die Bahnhöfe zum Beweise ihrer Dienstbereitschaft bemerkbar zu machen haben, in Zukunft die Beachtung finden, die ihrer Bedeutung für die Sicherheit des Betriebes entspricht.

Um dies zu erreichen, haben die Aufsichtsbeamten oder Fahrdienstleiter nach § 9(2m) F.-V. darüber zu wachen, daß die Bremser die vorgeschriebenen Zeichen abgeben. Zu dem Zwecke müssen sich die Aussichtsbeamten, wenn irgend möglich, nach § 9(3) der F.-V. während der Durchfahrt der Züge vor ihrem Dienstraum aufhalten. Sie werden sich mit ihren übrigen Arbeiten meist so einrichten können, daß dies möglich ist. Wo das Heraustreten aus dem Dienstraum nach dessen Lage nicht angängig ist, haben sie auf das Verhalten Bremser vom Fenster des Dienstraumes aus zu achten.

Die Bremser, die stets damit rechnen müssen, daß sie vom Aufsichtsbeamten oder Fahrdienstleiter beobachtet werden, haben die vorgeschriebenen Zeichen auf jeden Fall zu machen, ganz gleichgültig, ob sie den Aufsichtsbeamten sehen oder nicht. Sie haben den Versuch zur Abgabe der Zeichen, soweit dies ohne Verlassen ihres Platzes an der Bremse möglich ist, auch zu machen, wenn die Tür des Bremserhauses nicht nach der dem Dienstraum des Aufsichtsbeamten oder Fahrdienstleiters zugewendeten Seite gerichtet ist. Die Zeichen der Bremser. die während der Bremsbedienung selbstverständlich unterbleiben müssen, sind auf Zwischenbahnhöfen am Stationsgebäude abzugeben, auf Überholungsstationen und sonstigen Bahnhöfen, wo der Dienstraum des Aufsichtsbeamten oder Fahrdienstleiters nicht ohne weiteres erkennbar ist, an besonders bestimmten Gebäuden, deren Bekanntgabe demnächst durch den Anhang zum Fahrplanbuch durch neue Ausführungsbestimmungen örtlichen Art zu § 45(4) zu den F.-V. erfolgen wird Eine besondere Kennzeichnung dieser Gebäude an den Stirnseiten ist außerdem in Aussicht genommen (Hervorhebung durch mich).

Die Aufsichtsbeamten haben jeden Fall der unterlassenen Abgabe der vorgeschriebenen Zeichen durch die Bremser zu melden; diese Meldungen sind von den Bahnhöfen dem vorgesetzten Betriebsamt zur Verfolgung vorzulegen. Die Durchführung dieser Bestimmungen ist von den Amtsvorständen und Betriebskontrolleuren zu überwachen. Alljährlich im Oktober und April sind die Bestimmungen den Zugbegleitbediensteten sowie den Aufsichtsbeamten und Fahrdienstleitern von neuem einzuschärfen.“

1918 waren noch nicht alle Züge durchgehend luftgebremst, sondern durch Bremser gebremst. Der Bremser war einer der unattraktivsten Berufe bei der Eisenbahn. In einer Bretterbude hoch über dem Wagendach war der Bremser den Wetterbedingungen direkt ausgesetzt. Im Sommer traf ihn fast der Hitzschlag, im Winter erfror er fast in der zugigen Bretterbude. Dazu kam noch das Schaukeln des Wagenverbandes. Irgendwann passiert das unvermeidliche: der arme Mensch schläft ein. Er wird, wie es in den Verlautbarungen der Eisenbahndirektionen diplomatisch hieß, unaufmerksam. Die Gefahr für die Betriebssicherheit ist offenkundig: Ein oder mehrere eingeschlafene Bremser sind eine oder mehrere ausgefallene Bremsen. 1918 – also mitten im Ersten Weltkrieg – müssen wohl diese betriebsgefährdenden Vorfälle zugenommen haben. Die Eisenbahn war ein, vielleicht sogar der, kriegswichtige(r) Verkehrsträger. Unfälle die zur Zerstörung von Rüstungsgütern führten oder gar das Leben der Soldaten gefährdeten, konnten nicht hingenommen werden. Schließlich muss der Soldat noch bis zum Fronteinsatz am Leben bleiben.

Diese Regelung muss sich bewährt haben, denn Sie überdauerte das Ende des Ersten Weltkriegs. 1925 schreibt der Oberbaurat Karl Breusing in seinem Eisenbahnbetriebshandbuch zum § 45(4) der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fahrdienstvorschrift: „Bei der Durchfahrt durch einem Bahnhof haben sich die Bremser den Aufsichtsbeamten bei Tage durch militärischen Gruß, bei Nacht durch Heben der Handlaterne bemerklich zu machen, soweit es ihnen von ihren Plätzen aus möglich ist.“ Breusings Kommentar: „ Die Stellen, an denen sich die Bremser während der Durchfahrt durch einen Bahnhof bemerklich zu machen haben, sind in Preußen durch eine viereckige, auf die Spitze gestellte weiße Anstrichfläche an Stellwerken oder Gebäuden kenntlich gemacht…Die Worte „militärischer Gruß“ sind durch eine „Armbewegung“ zu erstetzen.“ Zu diesem Zeitpunkt war der militärische Gruß nicht „in“. Das hatte noch Zeit bis 1933.

1923 führte die Deutsche Reichsbahn ein neues Signal für zurückkommende Schiebelokomotiven oder zurück-fahrende Teilfahrten (Sperrfahrten) ein. In Preußen als Signal 41 bezeichnet, heißt es seit 1935 bis heute Ts 2 und 3. Dieses Signal sah der Raute zum verwechseln ähnlich. Auch nahmen mit der Zeit handgebremste Züge immer mehr ab, der technische Fortschritt in Form durchgängig luftgebremster Züge nahm seinen Lauf. Immerhin erst 1929 setzte die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft die Raute außer Kraft. Im Amtsblatt der Reichsbahndirektion Berlin 1929 lfd. Nr. 1051 steht folgendes dazu:

„Nr.1051. Kennzeichnung der Fahrdienstleiterposten auf den Bahnhöfen.

Die Hauptverwaltung hat mit Verfügung vom 29. Juli 1929 — 24 Bavf18 —- die Kennzeichnung der Aufenthaltsräume der Aufsichtsbeamten und Fahrdienstleiter durch ein auf der Spitze stehendes weißes Quadrat aufgehoben, weil das gleiche Signalbild neuerdings als Signal 41 verwendet wird.

An den Stellwerken, Befehlsstellen usw. sind die genannten Zeichen von den Bmeien zu entfernen. Schmelzüberzogene Tafeln sind vorsichtig abzunehmen und der Bmei 87 zu überweisen.“

Bekanntlich bestehen zuweilen zwischen der Theorie und Praxis bei der Eisenbahn gewaltige Unterschiede. So auch in diesem Fall. Wenn die Anweisung, das Zeichen zu entfernen, konsequent eingehalten worden wäre, könnte man heute (immerhin fast 90 Jahre später) nicht mehr das Zeichen bewundern, das den Bremsern wenigstens für kurze Zeit ihre eintönige Tätigkeit nahm, indem sie ihren Kollegen einen Gruß erwiesen. Die Raute  im Bild unten stammt vom ehemaligen Stellwerk Abwt des Anhalter Bahnhofs. Es ist in das Mauerwerk eingelassen und sollten Sie im schön gestalteten Park am Gleisdreieck in Berlin-Kreuzberg an dem Gebäude vorbeilaufen, dann wissen Sie jetzt, hier grüßte der Bremser.

 

Am 7. Januar 2014 ist die Raute immer noch am ehemaligen Stellwerk Abwt vorhanden. Nur, hätten Sie das Gebäude auf dem ersten Blick wieder erkannt? Foto Lars Molzberger