Stellwerke für die Autobahn - Warum der West-Berliner Senat für die DDR-Reichsbahn bauen ließ - und zahlte
Der nachfolgende Artikel erschien in den Verkehrsgeschichtlichen Blättern 3/2014. Er geht der Frage nach, warum der West-Berliner Senat der DDR-Reichsbahn millionenteure Stellwerke finanzierte. Der kalte Krieg war nun mal sehr facettenreich und führte zu solchen Auswüchsen. Lesen Sie nun, warum auf einigen Bahnhöfen Berlins noch heute Stellwerke, die von der Architektur eher bei der ehemaligen Deutschen Bundesbahn stehen könnten, in Betrieb sind.
Übrigens: Das Titelfoto fotografierte Frank Müller 1983 von der Rudolf-Wissell-Brücke aus!
Fährt man mit der S-Bahn durch Berlin, fallen dem aufmerksamen Beobachter Stellwerksbauten auf, die man auf Grund ihrer Architektur eher auf Bahnhöfen der ehemaligen Deutschen Bundesbahn erwarten würde. Es sind Gleisbild- und Spurplanstellwerke mit Sicherungstechnik der Firma Siemens, die der West-Berliner Senat in den 1960er Jahren finanzierte. Das wirft die Frage auf, warum der Westen der damals von der DDR verwalteten Deutschen Reichsbahn (DR) für etliche Millionen DM neue Stellwerke bezahlte? Ja, die autogerechte Stadt war seinerzeit eben wichtiger als die politisch-ideologische Abgrenzung zur DDR!
Die DR in West-Berlin war ein Anachronismus der Nachkriegsgeschichte. Sie führte auf sowjetischen Befehl und mit Zustimmung der drei westlichen Alliierten den Betrieb in West-Berlin durch, auch nach Gründung der DDR. Diese Besonderheit führte auf beiden Seiten zu Spannungen. Sei es, dass der Senat das Voıratsvermögen der Deutschen Reichsbahn auf alliierte Anordnung hin verwaltete. Sei es, dass die DR immer wieder Hoheitsansprüche auf das Bahngelände beanspruchte. Im Normalfall ignorierten sich beide Seiten, wo es nur ging. Es gab aber Ausnahmen von dieser Regel, wobei eine Ausnahme sich besonders abhebt: der Bau der Autobahn in West-Berlin. Die Trürmner der Kriegszeit waren beiseite geschafft, die Wirtschaft boomte. West-Berlin wollte sich ins Zeitalter der autogerechten Stadt aufmachen. Die Planungen für die Schnellstraßen lagen längst in der Schublade: Albert Speer hatte sie zusammen mit „Germania“ erschaffen wollen. Aus „Germania“ wurde zum Glück nichts, aber die Schnellstraßenplanung wurde in den 1950er Jahren wieder aktuell. Als Erstes wurde der Stadtautobahnring gebaut und in Etappen ab 1958 eröffnet. Die Nähe des Autobahnrings zur Ringbahn ist nicht zufällig gewählt: Der Senat bediente sich aus den Liegenschaften des Vorratsvermögens der DR zum Bau der Autobahn. Was hat aber der Autobahnbau mit Stellwerken für die Deutsche Reichsbahn gemeinsam?
Die Zusammenarbeit begann 1959. Die DR betrieb für die Verzweigung der Güterstrecken nach Halensee und Grunewald ein Behelfsstellwerk in einem Wagenkasten als Ersatz für das kriegsbeschädigte Brückenstellwerk Wst (Westend Südturm). Die DR beabsichtigte laut Akten, das Brückenstellwerk zu reaktivieren. Die neugebaute Autobahnbrücke hätte aber die Sicht vom Stellwerk auf die Bahnanlagen behindert. [1] Als Kompensation für die aus dem Brückenbau entstandenen Behinderungen des Bahnbetriebs erhielt die Deutsche Reichsbahn erstmals auf Kosten des West-Berliner Senats einen Stellwerksneubau. Das Aussehen und die Art der Sicherungstechnik bestimmte der West-Berliner Senat. Das neue Stellwerk Wst wurde am südlichen Ende des Bahnsteigs C des S-Bahnhofs Westend gebaut. Siemens lieferte ein Drucktastenstellwerk der Bauform Dr S2. Am 4. September 1962 ging das neue Stellwerk in Betrieb. Nur fünf Jahre später steuerte Wst auch die S-Bahn.
Sieben Jahre später entstand am Bahnhof Wilmersdorf eine ähnliche Situation. Der an den Bahnhof grenzende Innsbrucker Platz musste für den Autobahnbau komplett umgestaltet werden. Der S-Bahnhof Innsbrucker Platz war sogar von 1972 bis 1979 für den Fahrgastverkehr geschlossen. Der Güterbahnhof Wilmersdorf war für die Baulogistik der Autobahn vorgesehen. Mit den beiden vorhandenen Stellwerken - das eine zu dem Zeitpunkt 70 Jahre in Betrieb, das andere ein Nachkriegsprovisorium in Form eines Schlüsselwerks - hätte sich die umfangreiche Baulogistik schwer oder gar nicht beherrschen lassen. Das neue Spurplanstellwerk Wl steuerte zentral den gesamten Güterbahnhof und den S-Bahnhof Wilmersdorf (heute Bundesplatz) inklusive der Kehranlage. Architekt dieses weit über den Innsbrucker Platz ragenden imposanten Bauwerks war der leitende Architekt des Senators für Bau-und Wohnungswesen (SenBauWohn) Rainer G. Rümmler. (Rümmler ist bei Berliner Verkehrsbauten kein Unbekannter. Seiner Feder entstammen zahlreiche U-Bahnhöfe wie Rathaus Spandau, Residenzstraße, Eisenacher Straße.) Die Sicherungstechnik des Stellwerkes am Innsbrucker Platz stammte wieder von Siemens. Diesmal wurde ein Spurplanstellwerk der Bauform Sp Dr S60 verbaut. Die Abkürzung steht für Spurplan, Drucktastenstellwerk, Siemens, Entwicklungsjahr 1960. Es war das modemste Stellwerk, das Siemens damals im Angebot hatte.
Die Bauzeit des Stellwerks betrug zwei Jahre, von 1969 bis 1971.[2] Allerdings war das Stellwerk Wl nicht ganz an das damals geltende Regelwerk der DR angepasst. Die Rangiersignale des Bahnhofs Wilmersdorf waren Ra 11a-Signale (das gelbe Wartezeichen). Im Stelltisch wurde aber der Haltbegriff eines Lichtsperrsignals simuliert. Im zur damaligen Zeit gültigen Signalbuch der DR waren Lichtsperrsignale nicht mehr für neue Anlagen vorgesehen. Siemens hatte keine Signalgruppen für Rangiersignale der DR. Mit Wl konnte die DR erstmals Personale einsparen. Im Gegensatz zu Wst, das nur eins zu eins ersetzt wurde, ließen sich in Wilmersdorf drei Stellwerke außer Betrieb nehmen. Rationalisieren ohne Eigeninvestition ist nicht jedem vorbehalten!
Ende der 1970er Jahre wurde das dritte Stellwerk auf Senatskosten gebaut. Diesmal aber nicht wegen des Autobahnbaus. Das Stellwerk Mf des Bahnhofs Marienfelde verdankte seine Entstehung der Mitte der 1970er Jahre für die Anschließer der Motzener Straße prognostizierten Güterverkehrssteigerung. [3] Für die zu erwartende Verkehrssteigerung reichten die Gleisanlagen des Güterbahnhofs nicht mehr aus. Die beiden Stellwerke Mf und Msb waren zu diesem Zeitpunkt über 75 Jahre in Betrieb. Das Stellwerk Msb am südlichen Ende des Bahnhofs stand der Erweiterung der Gleisanlagen im Wege. Der Hochbau wurde diesmal nicht von Architekten der Senatsbauverwaltung entworfen, sondern vom Berliner Architekten Winnetou Kampmann. Kampmann war am Wiederaufbau des Martin-Gropius-Baus beteiligt. Der 1977 begonnene Bau des Stellwerks konnte erst 1982 beendet werden. Es gab Streit zwischen dem Senat und der DR. Leider haben die mir zugänglichen Akten nicht den Grund des Streits genannt.
Das Stellwerk Mf ist ein Spurplanstellwerk der Bauform Siemens Sp Dr S 60 DR. Erstmals wurde nach dem Regelwerk der Deutschen Reichsbahn verfahren, deswegen das „DR“ am Ende der Bezeichnung. Die Lichtsignale zeigen das Hl-Signalsystem der DR und nicht das HV-Signalsystem der DB. Mf war bei seiner Inbetriebnahme 1982 das größte Stellwerk in West-Berlin. Es steuerte eine Strecke von 6 km vom S-Bahnhof Mariendorf (heute Attilastraße) bis zum S-Bahnhof Lichtenrade. [4]
Etwa zur gleichen Zeit wurde das vierte und letzte Stellwerk projektiert, das der Senat finanzierte. Wieder war die Autobahn der Grund. Der Zubringer zur Autobahn nach Hamburg, der heutigen BAB 24, sollte gebaut werden. Auf der Ostseite des Bahnhofs Tegel sollte der Tunnel entstehen, der den Ortskern Tegel durchquert. Dieses Gelände gehörte der DR, auf dem in den 1920er Jahren der Bahnhof Tegel erweitert werden sollte. Der Senator für Bau- und Wohnungswesen erläuterte in einem Baukonzept vom 1. August 1980, warum ein neues Stellwerk auf dem Bahnhof Tegel erforderlich war:
„Unter Beachtung der vorgelegten Bauplanung des Senators für Bau- und Wohnungswesen kann die in der Gleisplanbemessung festgelegte Gleisplanerweiterung im Giiterzugbereich auf insgesamt vier Gleise ohne umfangreiche Veränderungen im S-Bahn-Bahnsteigsbereich sowie dem Einsatz von spezieller Stellwerkstechnik nicht realisiert bzw. nicht mehr mit der geforderten Betriebsbeweglichkeit der Zug- und Rangierbetríeb abgewickelt werden. Die wesentlichen Aspekte für diese Feststellung sind:
- wegen der Einengung der Entwicklungsfläche für die Eisenbahnanlagen auf der Ostseite können zuglange Gleise nur bei Verlagerung des S-Bahnsteiges in Richtung Norden gebaut werden.
- Die Gleisplantopologie kann unter den beengten Verhältnissen nur so gelöst werden, indem das westliche zuglange Güterzuggleis teilweise auf der Trasse des jetzigen Gleises 26 verlegt und die Anschlußbahn Borsig im Südkopf des Bahnhofes ein- gebunden werden muß.
- Die Topologie für die Realisierung des S- und Güterzugbetriebes im Nordkopferfordert den Abriß des Stellwerkes Tgl,
- die Lokomotivein- und -ausfahrten sind über Kurz/Langeinfahrten zu realisieren, um die nur mögliche Gleisplangestaltung voll für die betrieblichen Aufgaben des Zugbetriebes lösen zu können. Die Realisierung der Kurz/Langeinfahrten und -ausfahrten kann ebenfalls nur mit neuen sicherungstechnischen Anlagen gelöst werden. “ [6]
Die DR wollte etwa zum gleichen Zeitpunkt die zwei mechanischen Stellwerke durch ein elektromechanisches Stellwerk ersetzen. Diese Variante wurde in dem vorgenannten Baukonzept verworfen: „Die Ausführung des Stellwerkes in elektromechanischer Technik entsprechend der bisherigen Planung (ohne Abhängigkeit zum Autobahnzubringer und der damit notwendigen Berücksichtigung der Zielplanung) ist aus folgenden Gründen nicht mehr durchführbar:
1. Die Stellentfernung der Weichen, insbesondere im Südkopf erhöht sich. Ein Anschluß dieser Weichen über Steuerkabel ist nicht möglich. Der Einbau von speziellen Kabelanlagen, die aus Leistungskabeln mit 4 mm? Querschnitt bestehen, ist aus Gründen der Unterhaltung und Zuverlässigkeit auch für künftige Erweiterungen abzulehnen. Vielmehr sind Regelausführungen von Kabelanlagen, die ausschließlich aus Steuerkabeln bestehen, vorzuziehen, die jedoch dann den Einsatz von Drehstromweichenantrieben erfordern. Eine technische Lösung zum Einsatz von Drehstromweichenantrieben für elektromechanische Stellwerke bei der Deutschen Reichsbahn existiert nicht.
2. Das elektromechanische Hebelwerk für die Bedingungen der Zielplanung wäre auf 72 Hebelplätze auszulegen. Diese Anlage ist keinesfalls im bestehenden Hochbau unterzubringen. Auch die Erweiterung der Relaisanlage, insbesondere auch durch die zusätzlichen Freimeldeanlagen, kann nicht im bisher vorgesehenen Anbau installiert werden. Es ist somit eine neue Hochbaulösung zur Unterbringung der Technik notwendig.
3. Das notwendige Fahrstraßenprogramm mit Lang/Kurzeinfahrten kann nicht in elektromechanischer Stellwerkstechnik realisiert werden.
4. Die Übersichtlichkeit über die Betriebszustände ist durch die Hebelstellung der Weichen- und Fahrstraßensignalhebel nicht gegeben. Es wäre der Einsatz einer speziellen Meldetafel notwendig, die für die Bedingungen der Zielplanung auszulegen ist. Aus diesen Gründen wird weiterhin vorgeschlagen, das neue Stell-
werk des Bahnhofes Tegel in Gleisbildtechnik auszuführen.“ [6]
Der Bahnhof Tegel hatte 1980 ein Wagenaufkommen von ca. 13 000 Wagen pro Jahr. Eine Steigerung auf ca. 17 000 Wagen pro Jahr wurde prognostiziert. Laut einem nicht datierten Dokument des Senators für Bau- und Wohnungswesen ist folgende Lösung vorgesehen: „Zur Behebung der derzeitigen betrieblichen Zwänge und zur Aufnahme des zusätzlichen Verkehrs ist eine Erweiterung der Bahnhofsanlagen auf eine Gesamtzahl von 8 Aufstellgleisen mit insgesamt rd. 2500 m Nutzlänge notwendig. Die nur nach Osten mögliche Erweiterung der Bahnanlagen (Breitenentwicklung) zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit wird durch die künftig vorwiegend auf derzeitigem Bahngelände (Vorratsflächen) liegende Autobahn verhindert. Eine Erweiterung der Nutzlänge ist somit nur durch Verlängern der vorhandenen Gleise möglich. Hieraus ergeben sich besondere Anforderungen an die Gleisplangestaltung und Sicherungstechnik Für einen stabilen Betriebsablauf erfordert dieser Gleisplan (Längenentwicklung) den Einsatz der Sp Dr S60 DR-Zugsicherungstechnik. Sie ist Voraussetzung für die aufgrund der geringen Gleiszahl notwendigen Kurz/Lang-Ein-und Ausfahrten und erfordert eine Umrüstung der Zugsicherungsanlagen des gesamten Bahnhofs einschließlich der Zufahrtstrecken und Anschlußbahnen. “ [7]
Mit dem Bau des neuen Spurplanstellwerks an der Emststraße wurde im September 1983 begonnen. [8] Die Inbetriebnahme des neuen Stellwerks erfolgte erst am 22. August 1987. Warum brauchte man vier Jahre für den Bau eines Stellwerks? Dazu schweigen leider die vorhandenen Akten des Senators für Bau- und Wohnungswesen. Einzig die „Fahrt frei“ erwähnt in ihrer Ausgabe für Berlin (West) folgendes: „Die relativ lange Bauzeit erklärt sich aus der völligen Umprojektierung der Sicherungsanlagen nach der S-Bahn-Vereinbarung von Dezember 1983 und aus Unzulänglichkeiten seitens des Herstellers bei der funktionsfähigen Fertigstellung der Anlage sowie der unvollständigen technischen Dokumentation.“ [9] Die zweite Aussage sollte man mit der notwendigen Vorsicht betrachten (auf den Hersteller Siemens einzudreschen, entsprach dem ideologischen Paradigma der „Fahrt frei“). Die erste Aussage könnte zutreffen. Seit dem 9. Januar 1984 war der S-Bahn-Betrieb auf der Strecke Schönholz—Heiligensee eingestellt. Die anfangs geplanten Aufstellgleise konnten nun entfallen, weil die nicht genutzten S-Bahn-Gleise als Ersatz herhalten konnten. Ebenso war das alte Stellwerk Tgl nicht mehr vom Abriss betroffen. Letztendlich wurde das neue Stellwerk gebaut, aber die beengten Betriebsverhältnisse auf dem Bahnhof Tegel, die mit der Umgestaltung des Bahnhofs beseitigt werden sollten, wurden nicht behoben.
Welche Stellwerke sind 2014 noch in Betrieb?
Nur die Stellwerke Marienfelde und Tegel sind noch in Betrieb. Das Stellwerk Wst ist seit 1980 für die S-Bahn und seit 2003 auch für den Güterverkehr außer Betrieb. Es steht noch immer am südlichen Ende des Bahnsteigs C in Westend. Das Stellwerk Wilmersdorf Wl wurde im April/Mai 2014 abgerissen, nachdem es nur noch eine Ruine war.
Das Stellwerk Marienfelde Mf ist seit dem 26. März 2018 außer Betrieb. Als letztes Stellwerk ging Tegel Tgl am 25. Oktober 2021 vom Netz. Beide Stellwerke sind durch ESTW ersetzt worden. Dem Vernehmen nach ist das Grundstück, auf dem das Stellwerk Tgl sich befindet, verkauft. Ein Rückbau ist annehmbar.
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Quellen und weitere Links |
[1] Landesarchiv Berlin C Rep. 309 Nr. 3480 |
[2] http://www.berliner-stellwerke.de/stellwerke-t-z/wl.html |
[3] Kuhlmann, B.: Die Deutsche Reichsbahn in West-Berlin. - Berlin, 2007. - S. 111 |
[4] Berlin und seine Bauten. T. X, Bd. B (2): Fernverkehr. - Berlin, 1984. - S. 201 |
[5] http://www.berliner-stellwerke.de/stellwerke-l-s/mfspurplan.html |
[6] Landesarchiv Berlin B Rep. 009 Nr. 4676 |
[7] Landesarchiv Berlin B Rep. 009 Nr. 4682 |
[8] Kurzmeldung. - Berliner Verkehrsbl. - Berlin 30(l983)l0/11. - S. 233 |
[9] Fahrt frei: Ausgabe für die Eisenbahner in Westberlin. - Nr. 17/1987 |
Zeitzeugenaussagen |
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