
Geschrieben von: Lars Molzberger |
Um was geht es? Börßum war das erste deutsche Stellwerk. Oder etwa nicht? |
Was sagt das Beitragseinleitungsfoto aus? Das erste deutsche Stellwerk in Stettin. Zeichnung Sammlung Wägli |
1. Stettin oder Börßum – Welches war das erste Stellwerk in Deutschland?
Seit nunmehr 150 Jahren erstreckt sich die Geschichte der Sicherungstechnik in Deutschland. Angefangen hat alles durch britische Technologie. Mangels eigener Fertigungsstätten für Sicherungstechnik kauften die deutschen Bahnverwaltungen die neu aufgekommene Sicherungstechnik im Mutterland der Eisenbahn, nämlich Großbritannien.
Wie es die Überschrift andeutet, möchte ich im Folgenden die Frage klären, wo das erste Stellwerk auf dem zukünftigen Deutschen Reich zur Anwendung kam. Sie werden sich jetzt fragen, was das soll, steht doch in diverser Literatur zum Thema das Stellwerk in Börßum als erstes seiner Art fest. Und wie es so ist, schreiben andere ab und irgendwann steht es als unumstößliche Wahrheit festgeschrieben.
2. Wo bitte liegt Börßum?
Wo die Stadt Stettin (das heutige Szczecin) zu finden ist, brauche ich Ihnen bestimmt nicht näher erläutern. Dagegen dürfte bei der Ortschaft Börßum so manche/mancher von Ihnen erst einmal eine Suchmaschine befragen, um sich sachkundig zu machen. Die Ortschaft mit einer heutigen Einwohnerschaft von knapp 3000 Menschen war einmal ein bedeutender Bahnknotenpunkt, den drei Strecken berührten. 1840 bekam Börßum einen Halt an der Strecke von Braunschweig, die bis 1841 nach Harzburg verlängert wurde. 1855 kam die Braunschweigische Südbahn von Börßum nach Kreiensen dazu. 1868 schließlich kam die Strecke von Börßum nach Jerxheim hinzu. Und genau zu diesem Zeitpunkt war der sichere Betriebsablauf auf diesem komplexen Bahnhof nicht mehr mit den üblichen Mitteln – sprich Handweichen - zu sichern. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Strecke Börßum—Hornburg erst 1895 in Betrieb ging und damit für diese Betrachtung nicht relevant ist.
3. Die Vorgeschichte der Stellwerke Stettin und Börßum
Das Jahr 1856 gilt als das Geburtsjahr des Stellwerks. In diesem Jahr patentierte John Farmer (1821 – 1913) aus Brighton ein Stellwerk mit mechanischen Abhängigkeiten zwischen Weichen und Signalen. Es dauerte aber noch elf weitere Jahre, bis diese Technik zu den deutschen Bahnverwaltungen vordrang. Über die Vorgeschichte gibt uns ein Artikel aus der Bautechnik von 1924 Aufschluss:
„Als erste bei dem deutschen Stellwerkbau tätig gewesene Firma ist die Kölnische Maschinenfabrik in Bayenthal bei Köln zu erwähnen. Im Frühjahr des Jahres 186? lief bei ihr von der Eisenbahndirektion Stettin die Anfrage ein, ob sie geneigt sei, die seit Jahren bei den englischen Bahnen angewandten Stellapparate für Weichen und Signale für den Direktionsbezirk herzustellen. Der Firma waren derartige Anlagen wohl bekannt, aber nicht in dem Maße, daß sie den Bau ohne weiteres übernehmen konnte. Sie beauftragte daher den seit 1861 in ihren Diensten stehenden Ingenieur Theodor Henning, diese Anlagen in England zu studieren und darüber ein Gutachten auszuarbeiten. Im Sommer 1867 reiste Henning nach London in Begleitung des Regierungsbaumeisters Busse von der Eisenbahndirektion Stettin. Nach eingehenden Studien der dortigen Anlagen stellte er fest, daß die in Betrieb befindlichen Hebelwerke mit festbegrenzten Endstellungen der Weichen- und Signalhebel und gegenseitigen Verschlußeinrichtungen der Stellhebel untereinander zuverlässig arbeiteten und allen Anforderungen gerecht würden, dagegen ungenügend und unter Umständen gefahrbringend diejenigen Teile arbeiteten, die die Verbindung der Weichenhebel mit der Weiche herstellten.
Zu jeder Weiche führte eine Stelleitung und zu jeder von Zügen spitz befahrenen Weiche noch eine Riegelleitung, durch die die Weiche in der Endlage verschlossen wurde. Als Übertragungsmittel dienten schmiedeiserne Röhren, und zwar für die Stelleitung solche von 32 mm und für die Riegelleitung solche von 26 mm Durchm. Sie wurden unterstützt durch Rollen in Abständen von ungefähr 1,8 m. Zum Ausgleich der durch die Wärmeschwankungen eintretenden Längenunterschiede in der Leitung wurden 60 mm lange Regelmuffen mit Rechts- und Linksgewinde in jeden Gestängezug eingeschaltet, und eine Anzahl von Arbeitern war, je nach dem Wärmestand, damit beschäftigt, durch Drehen der Regelmuffen die einzelnen Gestängeleitungen in ihrer bedingten Länge zu erhalten. Die Sicherheit des Betriebes war daher von der Zuverlässigkeit des Unterhaltungspersonals abhängig. Eine vernachlässigte oder ungenaue Einregelung konnte leicht eine Entgleisung beim Befahren der von dem Hebelwerk ferngestellten Weichen herbeiführen. Auch war das Riegelgestänge viel zu schwach. Ein Riegelhebel mit langem Gestänge konnte ohne besonders große Anstrengung auch bei unrichtiger Weichenlage umgestellt werden, wobei dann das Gestänge eine Wellenlinie bildete.
Auf Grund des Berichtes, den Henning nach Besichtigung der englischen Anlagen erstattete, sah die Eisenbahndirektion Stettin vorerst davon ab, Stellwerkanlagen zur Fernbedienung auf ihren Bahnhöfen herzustellen (Hervorhebung durch mich).
Eine Wandlung trat erst ein, als es Henning gelang, durch Einschalten eines Ausgleichhebels die Mängel der englischen Leitungen zu beheben. Ein deutsches Patent auf diese wesentliche Neuerung, die in der Folge auch für die Ausführungen auf den englischen Bahnen übernommen worden ist, wurde nicht nachgesucht, weil damals ein brauchbares Patentgesetz noch nicht in Kraft war.
Nachdem die Eisenbahndirektion Stettin von dieser Erfindung in Kenntnis gesetzt war, bestellte sie eine Stellwerkanlage für die Einfahrt in den Güterbahnhof Stettin, die gegen Ende 1867 ausgeführt wurde. Das Stellwerk wurde von der Firma Saxby & Farmer in London bezogen, alles andere lieferte die Kölnische Maschinenfabrik in Bayenthal.
Ebenfalls im Jahre 1867 knüpfte auch die Direktion der Braunschweigischen Eisenbahnen (Oberbaurat Dr. Scheffler) mit der Firma Saxby & Farmer Unterhandlungen an wegen Beschaffung von Einrichtungen für zentrale Signal- und Weichenstellung. Das erste Hebelwerk beschaffte die Braunschweigische Eisenbahn jedoch nicht aus England, es wurde vielmehr 1868 von der Maschinenbauanstalt Bayenthal gebaut und auf dem Bahnhof Börßum aufgestellt. Es war in allen wesentlichen Teilen der Bauart Saxby & Farmer nachgebildet, und auch die Außenteile wurden nach Art der englischen Ausführungen durch die Bauverwaltung hergestellt und durch eigene Kräfte eingebaut. [1]
Fassen wir zusammen: Die Berlin—Stettiner Eisenbahn Gesellschaft zögerte anfangs wegen der technischen Unzulänglichkeiten mit der Anschaffung eines Stellwerks von Saxby & Farmer. Nach der Behebung der Mängel durch Theodor Henning erfolgte beim zweiten Anlauf der Bau des Stellwerks von Ende 1867 bis zum 1. April 1868.[2] Danach erfolgte die Inbetriebnahme des Stellwerks in Stettin.
4. Wilhelm Clauss verbreitet die Mär vom mangelhaften Stettiner Stellwerk
1869 verlässt Theodor Henning die Kölnische Maschinenfabrik Bayenthal, um mit seinem Studienfreund Adolf Schnabel die Firma Schnabel & Henning im Badischen Bruchsal zu gründen. Henning hat das Potential dieser Technik erkannt und möchte mit dem Verkauf von Sicherungsanlagen an dem boomenden Markt für Sicherungstechnik partizipieren. Kurze Zeit später sah auch Heinrich Büssing, der bei der Braunschweigischen Eisenbahn in der Verwaltung tätig war, dass Potential dieser Technik. Nach Übernahme der Eisenbahnsignal-Bauanstalt Gustav Ungnade in Braunschweig wurde er technischer Direktor des nun unter Max Jüdel firmierenden Unternehmens. Übrigens, die beiden späteren Konkurrenten Henning und Büssing waren gemeinsam an der Inbetriebnahme des Stellwerks Börßum beteiligt.
Wilhelm Clauss, Oberingenieur bei der Braunschweigischen Eisenbahn, veröffentlicht 1878 sein Werk „Ueber Weichenthürme und verwandte Sicherheitsvorrichtungen für Eisenbahnen heraus. Er beschreibt die noch junge Geschichte dieser Technik. Er schreibt Folgendes:
„Die Erkenntniss des hohen practischen Werthes dieses Systems veranlasste bereits vor 10 Jahren (1867) die Direction der Braunschweigischen Eisenbahn und insbesondere deren technisches Mitglied, Oberbaurath Dr. Scheffler, mit Saxby in London über Einführung derselben — zunächst auf den Stationen Börssum und Jerxheim — in Verbindung zu treten und ist sie daher die erste deutsche Eisenbahn-Verwaltung (die etwa gleichzeitig für den Rangirbahnhof in Stettin ausgeführte Anlage hat in Folge ihrer Mängel eher abschreckend als ermunternd gewirkt)*, welche die anfänglich mit grossen Schwierigkeiten und Kosten verknüpften Installationen dieser Appa rate auf ihren Linien thatsächlich durchführte, sie in ein übersichtliches und klares System ordnete und, den veränderten climatischen und anderen Verhältnissen in dem Arrangement der Details Rechnung tragend, sie successive für fast sämmtliche Stationen der Braunschweigischen Bahnen einführte. Nach vielfachen Abänderungen und Versuchen, bei welchen in erster Linie auf eine sehr sorgfältige und solide Anlage der Transmissionen Werth gelegt ist, wurden im Beginn des Jahres 1870 die Weichenthürme in Börssum und Jerxheim mit je 25 Hebeln dem Betriebe übergeben, hiernach folgten rasch die grösse ren Anlagen in Braunschweig, Seesen, Schöningen, Holzminden, die minder grossen mit 12 resp. 16 Hebeln auf 6 anderen gefährdeten Punkten und endlich 15 kleine Hebelapparatanlagen mit je 6 Hebeln auf den verschiedensten Stationen der Braunschweigischen Linien.“ [3] *Hervorhebung durch mich.
Diese in Klammern gesetzte Anmerkung sorgte dafür, dass die nachfolgenden Chronisten (selbst so renommierte Autoren wie Erich Preuß) bis heute die Mär verbreiten, dass das Stettiner Stellwerk ein Misserfolg war und die Ehre, das erste Stellwerk auf deutschen Boden zu sein, fiele einzig und allein Börßum zu. Dabei wurde es erst am 25. Juni 1870 in Betrieb genommen, also 2 Jahre später als das Stellwerk in Stettin. [4]
Übrigens äußert sich die Berlin—Stettiner Eisenbahngesellschaft selbst zu dem Thema. Der Präsident Rudolf Oelschläger persönlich schreibt an die Firma Schnabel & Henning am 20. Juni 1877:
„In Beantwortung des gefl. Schreibens benachrichtigen wir Sie ergebenst, dass sich auf unserem hiesigen Central-Güterbahnhofe ein von Saxby & Farmer gelieferter Central-Weichenstellapparat befindet, welcher seit dem Jahre 1868 in Benutzung ist. Der Apparat hat sich bewährt und wirkt vollständig verlässlich usw.“ [5]
Ich werde den Eindruck nicht los, dass hier ein Fall von Lobbyismus und Kompromittierung eines Mitbewerbers vorliegt. Herr Clauss war Oberingenieur der Braunschweigischen Eisenbahnen. Sämtliche Stellwerke, die nach Börßum für die vorgenannte Bahngesellschaft geliefert wurden, stammten von Jüdel. Deren technischer Direktor Heinrich Büssing war ein vormaliger Kollege des Herrn Clauss. Theodor Henning war Geschäftsführer des vier Jahre älteren Mitbewerbers Schnabel & Henning in Bruchsal. Henning hatte das Stettiner Stellwerk mit aufgebaut. Damit unterstellt man unterschwellig den Leiter einer Signalbaufirma mangelnde Fachkompetenz. Rufschädigung zum Erlangen wettbewerbsbedingter Vorteile.
In einer Angelegenheit allerdings ist Börßum wirklich das erste Stellwerk: Die Sicherungsanlage wurde, zwar britischen Grundsätzen folgend, vollständig in Köln hergestellt. Also das erste Stellwerk Made in Germany.
5. Quellen und Links |
[1] van Blema. Zur Entwickungsgeschichte des Stellwerksbaues, die Bautechnik 17/1924, Seite 179
[2] Wägli, Hans G.: Hebel, Riegel und Signale, 2018 Diplory Verlag Grafenried, Seite 128
[3] Clauss, Wilhelm: Üeber Weichenthürme und verwandte Sicherheitsvorrichtungen für Eisenbahnen, Braunschweig 1878, Seite 3
[4]Démanget: Zentrale Weichenstellung, Sicherung und Signalisirung, Deutsche Bauzeitung 42/1883, Seiten 251-252
[5] Wägli, Hans G.: Hebel, Riegel und Signale, 2018 Diplory Verlag Grafenried, Seite 128
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Letzte Bearbeitung: 28. April 2019 |